Bis 1990 kannte ich nicht mal das Wort. Dann hielt ich Sexismus zunächst für so was wie Nymphomanie bei Männern, irgendeinen dieser abartigen Auswüchse der zwischenmenschlichen Mangelgesellschaft West. Wer konnte auch ahnen, dass Respekt ohne Ansehen der persönlichen Oberweite Ende des 20. Jahrhunderts nicht überall in Europa so selbstverständlich war wie etwa eine einvernehmliche Mittagspause unter Kollegen? Unsereins ließ sich dafür von der Brigadeleiterin in den Frauenruheraum zerren oder zeigte ihr eben einen Vogel. Für unflätige Sprüche auf der Weihnachtsfeier oder Engmarschierer am 1. Mai gab es im Zweifel eine Ordnungsschelle. Diese Dinge waren in der unmündigen DDR vergleichsweise einfach geregelt. Umso befremdlicher wirkte die Debatte der Brüderle und Schwesterlein im mündigen Westen auf mich.
Doch offenbar ging es nicht nur um ein paar armselige Witzfiguren mit erektiler Dysfunktion. Die tausendfach geschilderte Ohnmacht der sonst so selbstbewusst auftretenden Westfrauen hat auch mich erschüttert. Allein mit Selbstbetrug und Sozialisation ließ sich das kaum erklären. Die freie Gesellschaft, die Politik und Pornoindustrie des Westens immer vorgaukeln, gab plötzlich einen tiefen Blick ins Mittelalter frei: lauter Feudalherren mit leibeigenen Mägden, alle seltsam gefangen in ihrer Rolle - und in Aufruhr, wenn sich der Nebel mal kurz lichtet.
Auf die Herkunft kommt es an
Nach einer Blitzumfrage unter Bekannten und Freundinnen hier wie da schien es tatsächlich in erste Linie ein Problem zwischen Westfrauen und Westmännern zu sein. Das entschuldigt zwar nichts – schon gar nicht die Ausnahmen hier wie da. Aber nach allem, was ich in den letzten Wochen über den systemischen Sexismus lernen konnte, darf man Menschen eben gerade nicht allein nach äußeren Geschlechtsmerkmalen sortieren oder bevorzugt verachten, sondern muss auch Herkunft und andere Handicaps berücksichtigen, für die sie nichts können.
Als notgeile Aufbauhelfer über Ostdeutschland herfielen und ihre altertümlichen Rollenspiele in Job und Familie mitbrachten, hielten das hiesige Frauen zunächst noch für Folklore, putzige Gockelei - leicht zu modernisieren. Leider saßen und sitzen die regionalen Unterschiede aber doch tiefer, wie eine Abhandlung zu "traditionell-sexistischen Einstellungen in Deutschland" nach 23 Jahren mit einer einzigen empirischen Fragestellung belegt: Danach finden es in Westdeutschland immer noch 41 Prozent der Männer und 39 Prozent der Frauen (!) für alle Beteiligten besser, wenn der Mann im Beruf stehe und sich die Frau um Familie und Haushalt kümmere. Im Osten sagen das "nur" 19 Prozent der Männer und 17 Prozent der Frauen - vermutlich eingewanderte Paare aus Ostanatolien oder Ostwestfalen.
Mit dem Burger in der Hand
Weil ich auch ab und zu mit gesenktem Blick durch Hamburg eile, weiß ich inzwischen sogar, wie sich Alltagssexismus anfühlt, jedenfalls ungefähr: "Bleib mal stehen, Süßer!", "Na, keine Lust?", "Jetzt hab dich nicht so!". Alle zwei Meter musste ich solche Sprüche schon hören, obwohl ich mir nur einen Hamburger holen wollte, die dort übrigens auch nicht besser schmecken. Selbst schuld, warf man mir darauf in der Redaktion vor, wenn es auch unbedingt der Burger King an der Reeperbahn sein müsse! Ich kam mir vor, als hätte ich einen zu kurzen Rock an. Von den Blicken der Kolleginnen gar nicht zu reden, die von Ost-Männern immer noch sonst was für Kunststücke erwarten, sowohl moralisch als auch im Bett. Es ist wirklich widerlich, auf Geschlecht und Herkunft reduziert zu werden!

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Aber ist sexuelle Belästigung das ganze Problem? Ist das, was ein paar Tage lang alle Sexismus nannten, nicht nur der Ausfluss eines Systems aus Abhängigkeiten und verkommenen Sitten – ganz unabhängig von Gaucks Tugendfurien und der verklemmten Sexualität einzelner Schmierlappen?
Dazu zählt in meinen Augen auch, dass sich Journalisten und Politiker - egal in welcher Geschlechtskonstellation – offenbar einig sind, dass es Vertraulichkeiten zwischen ihnen geben muss, von denen sonst nichts nach außen dringt. Diese Berufsvorstellung aus Hinterzimmer und Herrschaftswissen nennen sie "professionell" und empörten sich erst mal über den Tabubruch wie Lehrer an der Odenwaldschule. Aber vielleicht bin ich auch noch zu naiv, was die freien Medien betrifft - oder einfach enttäuscht, weil mir noch nie eine Politikerin zu nahe trat und meine Chefin immer nur E-Mails an alle "Kolleginnen und Kollegen" schreibt.
Stopp-Schild statt Tanzkarte
Der Unterschied ist: Ich weiß zwar, dass ich nicht der Einzige bin, der für unsere heimliche Vorstandsvorsitzende schwärmt, aber würde mir das nie durch besonderen Arbeitseifer anmerken lassen. Dieser diskrete Takt, den ich dank meiner frühen Sozialisation als Herdentier ausstrahle, schreckt vermutlich auch Politiker ab: Weder die Kanzlerin noch Guido Westerwelle wollten bisher auf meine Tanzkarte. Gegenüber Ursula von der Leine fällt es mir wiederum leicht, professionelle Distanz zu wahren. Schlimmstenfalls würde ich laut mein Alter rufen und ein Stoppschild hochhalten, wie sie es mal gegen Kinderpornografie im Internet einführen wollte. Frau Schavan hätte ich ohnehin keine Komplimente abgenommen. Aber schon bei Sahra Wagenknecht oder Katja Kipping wäre ich auf Anhieb vielleicht auch nicht schlagfertig genug. Dabei nehme ich die beiden – um Himmels Willen! – nicht etwa als Frauen wahr, sondern selbstverständlich nur als Politikerinnen. Und da liegt vermutlich schon die Hündin dieser eigentlich ziemlich simplen Debatte begraben.
Ob Annäherungsversuche ankommen oder abtörnen, verfangen oder verletzen, hängt immer auch vom Selbstbild des Empfängers ab. Ist der Absender zu alt, zu plump oder gar in der falschen Partei - wirkt jedes Wort zu viel noch unpassender. Bildet sie oder er sich zudem ein, durch Geld oder Status über normale Flirtkriterien und Umgangsregeln erhaben zu sein, wird es für alle unbehaglich. Dann muss ich Katja signalisieren, dass Rothaarige für mich ein schwarzes Tuch sind. Oder dem Rainerle reinen Wein einschenken – zur Not auch mal über die Hose, damit er sich abregt. Bei hartnäckigen Verständigungsproblemen funktioniert das sogar im Westen nonverbal, Stichwort Ohrfeige. Oder man nimmt es eben – die Floskeln entlarven sich selbst –"in Kauf", "flirtet mit der Macht" und "opfert" sich für das, was im System gerade verlangt wird.
Männer in Kittelschürzen
Angebot und Nachfrage – aber wem ich sage ich das? – bestimmen in dieser Gesellschaft leider auch den Preis der Selbstachtung. Sich opfern bleibt trotzdem ein aktives Verb, für männliche Karriereopfer ebenso wie in der traditionellen West-Ehe. Es geht nicht um gefüllte Dirndl, sondern um gefühlte Freiheit. Wer die einmal verinnerlicht hat, weil er als Kind vor einer Pionierleiterin stramm stehen musste, kann sogar als Mann unbefangen Kittelschürzen tragen und sich dabei sexy fühlen.
Das Dirndl ist nur die Burka des Westens. Selbst wenn sich Westfrauen darin von Westmännern eines Tages nicht mehr wie Westfrauen angeglotzt fühlen, hat das noch lange nichts mit Fortschritt zu tun, sondern allenfalls mit fortgeschrittenen Dekolletés. Eine freie Kultur der Körper ist viel mehr als das, was der Westen für FKK hält. Daran denke ich im Zusammenhang mit westdeutschen Kolleginnen oder Vorgesetzten nicht mal, während ich daran denke. Wenn es ihnen aber hilft – und weil wir immerhin vom Internationalen Frauentag reden – dürfen sie es heute ausnahmsweise auch mal mit allem Furor sagen: Schnauze, Wessi.